Der Europäische Gerichtshof hatte bekanntlich in seiner Aufsehen erregenden, aber nicht unerwarteten Entscheidung vom 04. Juli 2019 geurteilt, dass die Mindest- und Höchstpreissätze der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) unwirksam sind (EuGH, Urteil v. 4.7.2019 – C-377/17, BeckRS 2019, 13028).
Daraufhin wurden mit der HOAI 2021 verbindliche Preisrahmen für die ab dem 01.01.2021 geschlossenen Verträge abgeschafft.
Galt das aber auch in Altfällen?
Vorliegend ging es um einen HOAI-Pauschalhonorarvertrag aus dem Jahr 2016. Der Ingenieur kündigte den Vertrag und rechnete seine erbrachten Leistungen nach den HOAI-Mindestsätzen ab. Die Gesamtforderung überstieg die vereinbarte Pauschalsumme. In den Instanzen bekam der Ingenieur Recht. Allerdings gab es in der Literatur und Rechtsprechung auch andere Auffassungen.
Der BGH hatte mit Beschluss vom 14. Mai 2020 – VII ZR 174/19 das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH mehrere Fragen zu den Folgen der vom EuGH in seinem Urteil vom 04.07.2019 angenommenen Unionsrechtswidrigkeit der Mindestsätze in der HOAI für laufende Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen vorgelegt.
Mit Urteil vom 18.01.2022 – Rs. C-261/20 – entschied der EuGH, dass das Unionsrecht dahin auszulegen sei, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sich ausschließlich Privatpersonen gegenüberstehen, nicht allein aufgrund dieses Rechts verpflichtet ist, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die unter Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1, 2 g und Abs. 3 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt und die Unwirksamkeit von Vereinbarungen vorsieht, die von dieser Regelung abweichen, jedoch unbeschadet zum einen der Möglichkeit dieses Gerichts, die Anwendung der Regelung im Rahmen eines solchen Rechtsstreits aufgrund des innerstaatlichen Rechts auszuschließen, und zum anderen des Rechts der durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigten Partei, Ersatz des ihr daraus entstandenen Schadens zu verlangen (EuGH, Urteil vom 18.01.2022 – Rs. C-261/20). Damit folgte der EuGH in dieser Sache bemerkenswerterweise nicht dem Plädoyer des Generalanwalts.
Nationale Gerichte, die über Rechtsstreite zwischen Privatpersonen zu entscheiden haben, können in Altfällen also nach wie vor die HOAI anwenden. Das gilt auch dann, wenn eine öffentlich-rechtliche Institution den Planer beauftragt hat. Denn damit steht sie als Vertragspartner dem Architekten oder Ingenieur nicht in einem Hoheitsverhältnis, sondern fiskalisch gegenüber. Auch auf dieses Vertragsverhältnis ist das bürgerliche Recht und nicht etwa Verwaltungsrecht anzuwenden.
Die abschließende Entscheidung des BGH hat – wenig überraschend – dementsprechend die Entscheidung der Vorinstanz bestätigt und die Revision zurückgewiesen (BGH, Urteil vom 02.06.2022, VII ZR 174/19). Ergänzend hierzu hat der BGH in den Gründen darauf hingewiesen, „dass die Geltendmachung eines Anspruchs durch eine Partei insbesondere nicht deshalb gemäß § 242 BGB als treuwidrig und damit unzulässig bewertet werden kann, weil die nationale Rechtsvorschrift, aus der der Anspruch hergeleitet wird, gegen eine Richtlinie der Europäischen Union verstößt. Eine Partei kann sich vielmehr grundsätzlich auf eine nationale Rechtsvorschrift berufen, solange diese weiterhin gültig und im Verhältnis der Parteien anwendbar ist. Das von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung ist nur dann einschlägig, wenn die Anwendung einer Rechtsvorschrift einen im Einzelfall bestehenden Interessenkonflikt ausnahmsweise nicht hinreichend zu erfassen vermag und für einen Beteiligten ein unzumutbares unbilliges Ergebnis zur Folge hätte. Es dient jedoch nicht dazu, eine vom nationalen Gesetzgeber mit einer Rechtsvorschrift getroffene Wertung generell durch eine andere Regelung zu ersetzen“ (zit. nach IBR Online, HOAI-Mindestsätze in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privaten weiterhin anwendbar).
Und der Auftraggeber? Dieser könne sich – so der EuGH – auf dessen Rechtsprechung berufen, um gegebenenfalls vom Staat den Ersatz eines durch die Unvereinbarkeit der HOAI mit der Dienstleistungsrichtlinie entstandenen Schadens zu erlangen. Ob das gelingt, bleibt eine spannende Frage, u.a. deshalb, weil ein solcher Anspruch voraussetzen könnte, dass der Auftraggeber bei Vertragsschluss von der Unverbindlichkeit der HOAI ausgehen durfte.